Urteile zum Handel mit der Westsahara: Dies sind die Schlussfolgerungen des EuGH
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WSRW hat die wichtigsten Ergebnisse des wegweisenden Urteils des EU-Gerichtshofs zur Westsahara vom 4. Oktober 2024 zusammengefasst.

06. November 2024

Ein 12 Jahre dauerndes Gerichtsverfahren hat sein Ende gefunden. Der EU-Gerichtshof hat am 4. Oktober entschieden, dass die Handels- und Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko nicht auf die Westsahara und ihre natürlichen Ressourcen anwendbar sind. 

Wie ist der Gerichtshof zu diesem Schluss gekommen? Und was sind die wichtigsten Feststellungen des Gerichts? Western Sahara Resource Watch (WSRW) hat die Urteile für Sie analysiert.

  1. A. Was war Gegenstand der Urteile?

Am 4. Oktober 2024 erließ der Europäische Gerichtshof drei Urteile: 

  • Zwei Urteile in den vom EU-Rat und der EU-Kommission eingelegten Rechtsmitteln gegen die Entscheidung des EU-Gerichts aus dem Jahr 2021, mit der die Handels- und Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko in der Westsahara für nichtig erklärt wurden;
  • ein Urteil in einer Rechtssache, die das oberste französische Verwaltungsgericht („Conseil d'État“) zur Stellungnahme überwiesen hatte. Es handelte sich um eine Klage der französischen Landwirt:innengewerkschaft Confédération Paysanne. Diese beanstandete die fortgesetzte Einfuhr von fälschlicherweise als aus „Marokko“ stammend gekennzeichneten Tomaten und Melonen aus der Westsahara durch die französischen Behörden.


In den ersten beiden Urteilen erklärte das höchste Gericht der EU die Handels- und Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko in der Westsahara für nichtig, weil sie gegen die Grundsätze der Selbstbestimmung und der relativen Wirkung von Verträgen verstoßen. Hier finden Sie die Pressemitteilung des Gerichtshofs zu den Fischerei- und Handelsabkommen. Den Text des Urteils zum Handelsabkommen finden Sie hier. Das Urteil zum Fischereiabkommen ist hier abrufbar.

In dem von der Confédération Paysanne angestrengten Verfahren entschied der Gerichtshof, dass in der Westsahara geerntete Erzeugnisse als aus diesem Gebiet stammend gekennzeichnet werden müssen. Weitere Hintergrundinformationen finden Sie in der Pressemitteilung des Gerichts zu diesem Urteil oder im Urteil selbst.

Eine Chronologie des 12 Jahre dauernden Gerichtsstreits finden Sie auf unserer Website

  1. B. Was sind die wichtigsten Ergebnisse?

  2. 1. Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Front Polisario berechtigt ist, im Namen des sahrauischen Volkes zu klagen, und dass sie Zugang zum Gerichtshof hat, um dessen Recht auf Selbstbestimmung zu verteidigen.

In § 90 (Handel) und § 116 (Fisch) kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass „der Front Polisario vor den Unionsgerichten die Rechtmäßigkeit einer Unionshandlung anfechten kann, die unmittelbare Auswirkungen auf die Rechtsstellung des Volkes der Westsahara in seiner Eigenschaft als Inhaber des Rechts auf Selbstbestimmung hat, wenn die betreffende Handlung es individuell betrifft oder im Fall eines Rechtsakts mit Verordnungscharakter keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht.“

Der Gerichtshof erkennt die Berechtigung der Polisario an, vor den Gerichten der EU als Partei aufzutreten (§70 (Handel), §96 (Fischerei)) und im Namen des Volkes der Westsahara aufzutreten, da sie einer der legitimen Gesprächspartner im UN-Prozess zur Bestimmung der Zukunft des Gebiets ist (§69 (Handel), §95 (Fischerei)) und an verschiedenen internationalen Foren teilnimmt und bilaterale Beziehungen auf internationaler Ebene unterhält (§70 (Handel), §96 (Fischerei)).

Dies ist eine wichtige Schlussfolgerung: Von nun an steht nicht mehr zur Debatte, ob die Polisario vor den Gerichten der EU Klage erheben kann oder nicht. Diese Frage ist geklärt.

In § 109 des Urteils über den Handel (bzw. in § 138 des Urteils über das Fischereiabkommen) heißt es unmissverständlich, dass die Frente Polisario „das Volk der Westsahara als Inhaber des Selbstbestimmungsrechts in Bezug auf dieses Gebiet vertritt“.
 

  1. 2. Der Gerichtshof hat den gesonderten und unterschiedlichen Status der Westsahara bestätigt


Seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2016, mit dem das Handelsabkommen zwischen der EU und Marokko in Bezug auf die Westsahara für nichtig erklärt wurde, haben die Gerichte der EU immer wieder auf den „gesonderten und unterschiedlichen“ Status der Westsahara in Bezug auf jeden Staat, einschließlich Marokko, hingewiesen und diesen besonderen Status bestätigt. Das bedeutet, dass bei der Unterzeichnung eines Abkommens mit Marokko der Ausdruck „Gebiet des Königreichs Marokko“ in Art. 94 des Assoziierungsabkommens nicht dahin ausgelegt werden kann, dass die Westsahara in den räumlichen Geltungsbereich dieses Abkommens fällt.

Dies ist auch bei den beiden jüngsten Urteilen zur Nichtigerklärung des Handelsabkommens zwischen der EU und Marokko und des Fischereiabkommens in der Westsahara nicht anders. Der Status „gesondert und unterschiedlich“ wird in § 134 (Handel) und § 163 (Fischerei) fast beiläufig erwähnt, da es sich um eine feststehende Angelegenheit handelt. 

Das Urteil in der Rechtssache der Confédération Paysanne unterstreicht den gesonderten und unterschiedlichen Status der Westsahara (d.h. nicht Teil Marokkos) insofern, dass auf Produkten aus der Westsahara nur die Westsahara als Ursprungsland angegeben werden darf. In seinem Urteil in der vom französischen Bauernverband angestrengten Rechtssache stellt der Gerichtshof außerdem klar, dass die Westsahara „Zollgebiet“ im Sinne des Zollkodex der Union (§87) ist, weil die Zollvorschriften der Union „unterschiedliche Codes und Bezeichnungen für die Westsahara und das Königreich Marokko“ vorsehen (§86), [MOU1] d. h. „MA“ für Marokko und „EH“ für die Westsahara, gemäß Anhang I der Durchführungsverordnung (EU) 2020/1470 der Kommission vom 12. Oktober 2020. [https://eur-lex.europa.eu/eli/reg_impl/2020/1470/oj?eliuri=eli%3Areg_impl%3A2020%3A1470%3Aoj&locale=en].
 

  1. 3. Der Gerichtshof hat unmissverständlich festgestellt, dass die „Bevölkerung der Westsahara“ und das „Volk der Westsahara“ nicht dasselbe sind


Der Gerichtshof hat in §128 (Handel) und §157 (Fisch) festgestellt, dass „der überwiegende Teil der aktuellen Bevölkerung der Westsahara nicht zu dem Volk gehört, das Inhaber des Rechts auf Selbstbestimmung ist, und zwar dem Volk der Westsahara. Letzteres, das zum großen Teil vertrieben wurde, ist aber der alleinige Inhaber des Rechts auf Selbstbestimmung für das Gebiet der Westsahara. Das Recht auf Selbstbestimmung steht nämlich dem betreffenden Volk zu und nicht der Bevölkerung dieses Gebiets im Allgemeinen, die nach den von der Kommission in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof vorgelegten Schätzungen nur zu 25 % sahrauischer Herkunft ist. 

Insoweit besteht „ein Unterschied zwischen der „Bevölkerung“ eines Hoheitsgebiets ohne Selbstregierung und dem „Volk“ dieses Gebiets. Der Begriff „Volk“ verweist nämlich auf eine politische Einheit, die Inhaberin des Rechts auf Selbstbestimmung ist, während mit dem Begriff „Bevölkerung“ die Bewohner eines Gebiets bezeichnet werden.“ (§129 (Handel), bzw. §158 (Fisch))


  1. 4. Der vom EAD und der Kommission durchgeführte Konsultationsprozess kann nicht mit der Zustimmung des Volkes des Hoheitsgebiets ohne Selbstregierung der Westsahara gleichgesetzt werden


In den Jahren 2018 und 2019 unternahm die Europäische Kommission große Anstrengungen, um die Urteile aus dem Jahr 2016 zu umgehen, als die EU vor Gericht verloren hatte. Der EuGH hatte ausdrücklich festgestellt, dass in der Westsahara kein Abkommen geschlossen werden kann, ohne zuvor die echte Zustimmung des Volkes des Gebiets eingeholt zu haben. Die Europäische Kommission beschloss jedoch auf höchst fragwürdige Weise, eine „Konsultation“ marokkanischer Siedler:innengruppen durchzuführen, um die vom Gericht festgelegten Voraussetzungen zu umgehen. Die Irreführung der EU-Institutionen durch die Kommission wurde im WSRW-Bericht „Above the law“ aus dem Jahr 2020 behandelt. Aber die „Bevölkerung“ ist nicht dasselbe wie das „Volk“, und „Konsultation“ ist nicht gleichbedeutend mit „Zustimmung“. Dies wurde noch nie so deutlich formuliert wie in den jetzigen Urteilen. 

Nachdem das Gericht den Unterschied zwischen der „Bevölkerung“ und dem „Volk“ der Westsahara eloquent formuliert hat, leitet es in § 130 (Handel) und § 159 (Fisch) ab, dass „die Kommission und der EAD Konsultationen mit der ‚betreffenden Bevölkerung‘ durchgeführt, bei der es sich (…) im Wesentlichen um die Bevölkerungsgruppen handelt, die sich gegenwärtig im Gebiet der Westsahara befinden, unabhängig davon, ob sie zum Volk dieses Gebiets gehören oder nicht. Wie das Gericht im Wesentlichen in Rn. 373 des angefochtenen Urteils zutreffend entschieden hat, entsprechen diese Konsultationen daher nicht einer Einholung der Zustimmung des „Volkes“ des Hoheitsgebiets ohne Selbstregierung der Westsahara. 

Die EU-Organe haben nicht nur einen Fehler begangen, indem sie die „Bevölkerung“ mit dem „Volk“ gleichgesetzt haben, sondern sie haben auch zu Unrecht ein Konsultationsverfahren mit dem Recht auf Zustimmung gleichgesetzt.

Der Gerichtshof betont, dass die „Zustimmung“ eingeholt werden muss, und verweist auf den Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen, d. h., dass Verträge Dritten keine Verpflichtungen auferlegen oder Rechte verleihen können. Unter Bezugnahme auf sein Urteil aus dem Jahr 2016, in dem das Volk der Westsahara als Drittpartei der Abkommen der EU mit Marokko eingestuft wurde, betonte der Gerichtshof, dass das Volk der Westsahara der Umsetzung eines solchen Abkommens zustimmen muss (§132 (Handel), §161 (Fisch)).

Der Gerichtshof folgert weiterhin : „… dem Rat stand, wollte er nicht gegen das Erfordernis der Zustimmung des Volkes dieses Gebiets zu einem solchen Abkommen verstoßen, nicht die Entscheidung darüber zu, ob von der Zustimmung abgesehen werden konnte.“ (§135 (Handel), §164 (Fisch)).

In §140 (Handel) und §169 (Fisch) kommt der Gerichtshof schließlich zu dem Schluss, dass der Rat mit seiner Auffassung, dass (…) dem Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen in seiner Auslegung durch den Gerichtshof in Rn. 106 des Urteils vom 21. Dezember 2016, Rat/Front Polisario (C‑104/16 P, EU:C:2016:973), entsprochen worden sei, die Tragweite sowohl dieser Konsultationen als auch des in Rn. 106 aufgestellten Erfordernisses verkannt“ habe.
 

  1. 5. Die Zustimmung kann ausdrücklich erfolgen, kann aber auch unter sehr strengen Bedingungen vermutet werden, um das Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit zu wahren.


Das Urteil in der Berufungssache weicht insofern leicht vom Urteil des Gerichts aus dem Jahr 2021 ab, als dass der Europäische Gerichtshof nicht der Meinung ist, dass die Zustimmung des Volkes der Westsahara zu dem fraglichen Abkommen ausdrücklich zum Ausdruck gebracht werden muss. Der Gerichtshof verweist auf das Völkergewohnheitsrecht, das nicht vorsieht, dass die Zustimmung eines Dritten in einer bestimmten Form ausgedrückt werden muss. 

Während die ausdrückliche Zustimmung weiterhin eine Option bleibt, erkennt der Gerichtshof an, dass im besonderen Fall eines Hoheitsgebiets ohne Selbstregierung die Zustimmung auch vermutet werden kann, „ sofern zwei Voraussetzungen erfüllt sind“ (§ 152 Handel, § 180 Fisch). 

Diese Voraussetzungen sind in §153 (Handel) und in §181 (Fisch) zusammengefasst:

  • „Zum einen darf die fragliche Übereinkunft keine Verpflichtung für dieses Volk schaffen.“

    Das bedeutet: Das Abkommen darf dem Volk der Westsahara keine Verpflichtungen auferlegen, die es gemäß dem Abkommen zu erfüllen hätte. Das Abkommen darf z.B. nicht vom Volk der Westsahara verlangen, Aufgaben zu übernehmen, die für die Umsetzung des Abkommens erforderlich sind.

    Mit anderen Worten: Das Gericht beschränkt die Rolle Marokkos auf reine Verwaltungsaufgaben, ohne jegliche Souveränität. Das Gericht wendet den Begriff „Besatzung“ in seinem Urteil nicht ausdrücklich an, die Feststellungen stehen jedoch im Einklang mit Besatzungsrecht (humanitäres Völkerrecht).
     
  • "Zum anderen muss sie vorsehen, dass dem betreffenden Volk selbst – das durch die Bevölkerung des Gebiets, auf das sich sein Selbstbestimmungsrecht bezieht, nicht adäquat vertreten werden kann – aus der Nutzung der natürlichen Ressourcen des Gebiets ein präziser, konkreter, substanzieller und überprüfbarer Vorteil erwächst, der in angemessenem Verhältnis zum Ausmaß der Nutzung steht. Der Vorteil muss mit Garantien dafür verbunden sein, dass die Nutzung unter Bedingungen stattfindet, die mit dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung im Einklang stehen, damit sichergestellt ist, dass nicht erneuerbare natürliche Ressourcen in reichem Maß verfügbar bleiben und dass sich erneuerbare natürliche Ressourcen wie die Fischbestände fortlaufend neu bilden. Schließlich muss die fragliche Übereinkunft auch einen Mechanismus für die regelmäßige Kontrolle vorsehen, der die Prüfung ermöglicht, ob der dem betreffenden Volk in Anwendung der Übereinkunft gewährte Vorteil tatsächlich besteht.“

    Das bedeutet, dass der Löwenanteil der durch das Abkommen erzielten Vorteile den Volk der Westsahara zugute kommt, nicht der Bevölkerung, und dass diese Vorteile einer Reihe von Kriterien entsprechen müssen.


Wenn das Abkommen also keine Verpflichtungen, sondern Vorteile für das Volk - und nicht für die Bevölkerung - der Westsahara schafft, die streng an die Wahrung der Selbstbestimmung geknüpft sind, könnte von einer Zustimmung ausgegangen werden.

Der Gerichtshof argumentiert jedoch, dass sowohl beim Handelsabkommen als auch beim Fischereiabkommen nicht von einer Zustimmung ausgegangen werden kann.

  • Für das angefochtene Handelsabkommen könne nicht von einer Zustimmung ausgegangen werden, so der Gerichtshof in §160 (Handel). In §158 (Handel) kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass „das streitige Abkommen offenkundig keinen Vorteil zugunsten des Volkes der Westsahara enthält“. In § 159 (Handel) fügt er hinzu, dass „das streitige Abkommen dem Volk der Westsahara als an diesem Abkommen nicht beteiligtem Dritten keine Rechte eingeräumt werden. Die von der Union für die Erzeugnisse mit Ursprung in der Westsahara gewährten Zollpräferenzen werden dem Königreich Marokko als Partei des streitigen Abkommens eingeräumt.“.
  • In seinem Urteil zum Fischereiabkommen (§ 186) weist der Gerichtshof außerdem darauf hin, dass „das streitige Abkommen offenkundig keinen Vorteil zugunsten des Volkes der Westsahara enthält“. Im nächsten Absatz erklärt der Gerichtshof, dass „ die durch das Fischereiabkommen in den an die Westsahara angrenzenden Gewässern eingeräumten Rechte nämlich der Union und den Mitgliedstaaten gewährt (werden). Zudem wird (…) die Bewirtschaftung der Fischereitätigkeiten in diesen Gewässern, u. a. im Rahmen der für sie geltenden Definition der Bewirtschaftungsgebiete, durch die marokkanischen Behörden im Rahmen ihrer nationalen Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften ausgeübt. Zum anderen werden die einzelnen Bestandteile der finanziellen Gegenleistung (…) an die marokkanischen Behörden gezahlt.“ Darüber hinaus erklärt der Gerichtshof in §188, dass „der Geltungsbereich des streitigen Abkommens unter Bezugnahme auf eine einzige „Fischereizone“ festgelegt (wird), die im Wesentlichen die Gesamtheit der an das Königreich Marokko und das Gebiet der Westsahara angrenzenden Gewässer umfasst. Bei der Definition dieser „Fischereizone“ wird jedoch nicht zwischen den an das Gebiet des Königreichs Marokko angrenzenden Gewässern und den an das Gebiet der Westsahara angrenzenden Gewässern unterschieden.“. „Somit wird im streitigen Abkommen nicht klargestellt, welcher Teil der Fischereirechte der Union die an das Königreich Marokko angrenzenden Gewässer betrifft und welcher Teil von ihnen die an das Gebiet der Westsahara angrenzenden Gewässer.“ (§ 189).


In Bezug auf das Fischereiabkommen erkennt der Gerichtshof an, dass „dieses Abkommen zwar das Erfordernis einer „gerechten geografischen und sozialen Aufteilung“ des sozioökonomischen Nutzens vor(sieht), der sich aus den Ausgleichszahlungen der Union an das Königreich Marokko ergibt.“ (§ 190). „… den Bestimmungen des streitigen Abkommens (lässt sich) jedoch nicht entnehmen, inwiefern der Grundsatz der ausgewogenen geografischen und sozialen Aufteilung der finanziellen Gegenleistung im Gebiet der Westsahara und im Gebiet des Königreichs Marokko in differenzierter Weise angewandt wird. Das Abkommen sieht jedenfalls nicht vor, dass eine finanzielle Gegenleistung speziell dem Volk der Westsahara zugutekommt.“ (§ 191). „Folglich kann nicht vermutet werden, dass das Volk der Westsahara seine Zustimmung zur Anwendung des streitigen Abkommens auf die an das Gebiet der Westsahara angrenzenden Gewässer erteilt hat.“ (§ 192).

Der Gerichtshof hat in §156 (Handel) und §184 (Fisch) hinzugefügt, dass die mutmaßliche Zustimmung rückgängig gemacht werden kann, wenn legitime Vertreter des Volkes nachweisen, dass die Vorteile nicht die in §153 (Handel) oder §181 (Fisch) genannten Kriterien erfüllen. Dies bekräftigt das Recht der Polisario, Klage zu erheben. 

Dieser Absatz besagt auch, dass es Sache des EU-Gerichtshofs ist, festzustellen, ob das Abkommen das Recht des Volkes der Westsahara auf Selbstbestimmung und auf dauerhafte Souveränität über die natürlichen Ressourcen des Gebiets angemessen wahrt. Im Falle neuer Abkommen, die sich auf die angeblich vorausgesetzte Zustimmung des sahrauischen Volkes stützen, wird die gerichtliche Kontrolle durch die EU-Gerichte daher in vollem Umfang gelten. Der Gerichtshof wird sehr sorgfältig und gründlich prüfen, ob das vorgeschlagene Abkommen den restriktiven Kriterien entspricht, die in den Urteilen von 2024 festgelegt sind. 

 

C. Wann treten die Urteile in Kraft?

Urteil bezüglich des Handelsabkommens: 

  • Die EU und Marokko haben ein Jahr Zeit, um die Anwendung ihres Handelsabkommens auf die Westsahara auslaufen zu lassen.
  • Der Gerichtshof erkannte an, dass die Nichtigerklärung des Abkommens geeignet ist „schwerwiegende negative Folgen für das auswärtige Handeln der Union herbeizuführen und die Rechtssicherheit der von ihr eingegangenen und für die Unionsorgane und die Mitgliedstaaten bindenden internationalen Verpflichtungen zu gefährden.“ (§185).
  • „Infolgedessen sind aus Gründen der Rechtssicherheit die Wirkungen des streitigen Beschlusses für einen Zeitraum von zwölf Monaten ab dem Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils aufrechtzuerhalten.“ (§ 186). Das bedeutet, dass die EU-Institutionen bis zum 4. Oktober 2025 Zeit haben, um dem Gerichtsurteil in Bezug auf Einfuhren aus der besetzten Westsahara Rechnung zu tragen.


Urteil bezüglich des Fischereiabkommens: Das Protokoll ist bereits am 17. Juli 2024 ausgelaufen. Damit ist die EU-Fischerei in Gewässern der Westsahara bereits beendet.

Urteil bezüglich Etikettierung : Dieses ist sofort in Kraft getreten.

 

D. Welche Auswirkungen haben die Urteile?

Es ist wirklich noch zu früh, um genaue Aussagen zu treffen. Hier sind jedoch einige erste Überlegungen. 

  1. Auswirkungen für die EU und ihre Mitgliedstaaten


Erstens muss die EU unverzüglich damit beginnen, sich technisch auf die Situation einzustellen, dass sie die Westsahara in ihren Handelsbeziehungen mit Marokko nicht mehr als Teil Marokkos behandeln kann.

Lässt Punkt 5 über die vermutete Zustimmung (s.o.) die Tür für die EU offen, ein neues Handelsabkommen mit Marokko zu schließen, das auf die Westsahara ausgedehnt werden kann? Theoretisch ja. In der Praxis werden die vom Gerichtshof festgelegten Bedingungen dieses Unterfangen jedoch nahezu unmöglich machen. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die marokkanische Regierung bereit ist, mit der EU zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass die Sahrauis - und nicht die marokkanischen Siedler:innen - die fast ausschließlich einzigen sind, die von den Handelsabkommen in der Westsahara profitieren. 

Nach Artikel 36 Absatz 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge von 1969, auf den sich der Gerichtshof stützt, wird ein Drittstaat „durch eine Vertragsbestimmung berechtigt, wenn die Vertragsparteien beabsichtigen, durch die Vertragsbestimmung dem Drittstaat (…) ein Recht einzuräumen, und der Drittstaat dem zustimmt.“ 

Abgesehen von der sehr strengen Regelung des Gerichtshofs würde eine mutmaßliche Zustimmung daher voraussetzen, dass die EU und Marokko „beabsichtigen“, dem sahrauischen Volk Rechte zu gewähren. In Anbetracht der offiziellen Position der marokkanischen Behörden scheint es unwahrscheinlich, dass sie akzeptieren werden, dem sahrauischen Volk im Rahmen dieses Abkommens mit der EU Rechte zu gewähren. Marokko bestreitet seit Jahrzehnten das Recht der Sahrauis auf Selbstbestimmung und sogar ihre Existenz als „Volk“ - und nicht nur als „betroffene Bevölkerung“.

Der Thinktank European Council on Foreign Relations (ECFR) entwirft ein interessantes Szenario: Durch die Einbeziehung der Polisario in diese Ressourcengespräche könnte die EU dazu beitragen, den Konflikt in Richtung einer Lösung voranzubringen. 

Es ist auch erwähnenswert, dass die Anwälte der Polisario nach dem Urteil von 2021 angedeutet haben, dass die Sahrauis Schadenersatz für die illegale Anwendung der Handelsabkommen zwischen der EU und Marokko auf dem Gebiet der Westsahara fordern könnten. Die EU muss dieses reale Szenario in Betracht ziehen. Wie die Kommission selbst gezeigt hat, beläuft sich die Menge der geplünderten Produkte auf mehrere hundert Millionen Euro jährlich.

 

  1. Auswirkungen für Privatunternehmen


Marokko arbeitet in den besetzten Gebieten mit zahlreichen internationalen Privatunternehmen zusammen und missachtet dabei die in den Urteilen dargelegten Grundsätze. Drei Punkte sind besonders hervorzuheben: 

  • Alle Unternehmen, die auf der Grundlage marokkanischer Verträge im Gebiet der Westsahara tätig sind, sind einem erhöhten rechtlichen Risiko ausgesetzt. Wie groß ist das Risiko? Dies hängt sicherlich von vielen Faktoren ab, unter anderem von der Rechtsprechung im Herkunftsland des Unternehmens, davon, ob es sich um ein europäisches Unternehmen handelt und von der Art des Engagements des Unternehmens in der Westsahara. Das Risiko könnte als größer angesehen werden, wenn das Unternehmen in Sektoren tätig ist, die unter die Urteile fallen. Insgesamt ist der Grundsatz der relativen Wirkung nicht spezifisch für internationale Verträge, sondern ein allgemeiner Grundsatz des Vertragsrechts, der für alle rechtlichen Verpflichtungen gilt, unabhängig davon, in welchen Rechtssystemen sie verankert sind. Das Recht auf Zustimmung des sahrauischen Volkes muss von allen, auch von privaten Unternehmen, jederzeit beachtet werden. Im Gegenteil, wenn dem sahrauischen Volk ohne seine Zustimmung Verpflichtungen auferlegt werden, kann dies zu einer zivil- und strafrechtlichen Haftung vor den Gerichten des Staates führen, in dem das Unternehmen gegründet wurde.
  • Unternehmen, die Agrar- und Fischereierzeugnisse in die EU einführen, müssen unverzüglich Anpassungen vornehmen. Erstens müssen sie sicherstellen, dass ihre Erzeugnisse aus der Westsahara als aus der Westsahara und nicht aus Marokko stammend gekennzeichnet werden. Zweitens müssen sie sich auf eine Situation vorbereiten, in der ab dem 4. Oktober 2025 keine Zollpräferenzen mehr für Einfuhren gewährt werden. Es besteht die reale Gefahr, dass die Erzeuger in der Westsahara von nun an verstärkt über Marokko auf den europäischen Markt exportieren werden. Infolgedessen sollten Einzelhandels- und Importunternehmen zunehmend skeptisch sein, was die Echtheit von Ursprungszeugnissen und Pflanzengesundheitszeugnissen für bestimmte Fischerei- und Agrarerzeugnisse aus „Marokko“ angeht.
  • Schließlich hat sich auch das Reputationsrisiko für alle Unternehmen erhöht. Bisher haben einige der Unternehmen, die größere Aufträge in dem Gebiet erhalten haben, eigenartige „Stakeholder-Konsultationen“ mit der „lokalen Bevölkerung“ erfunden, um ihre Tätigkeiten und Investitionen zu legitimieren. Dies gilt beispielsweise für die Arbeit, die das französische Unternehmen Global Diligence für Engie vor dessen Beteiligung an einem großen Programm zur Entwicklung landwirtschaftlicher Flächen in den besetzten Gebieten durchgeführt hat. Mit den neuen Urteilen wird dieser Ansatz völlig über den Haufen geworfen. Das Argument, dass Vorteile für die lokale Bevölkerung in einem besetzten Gebiet etwas grundlegend anderes sind als eine Zustimmung des Volkes dieses Gebiets, wird vom Gericht eindeutig unterstützt. Auch die Argumente einer so genannten Soziallizenz ergeben im Lichte der Ausführungen des EU-Gerichts keinen Sinn. WSRW erwartet daher, dass Unternehmen wie Enel oder Engie in ihren ESG-Berichten nicht mehr auf solche Prozesse verweisen. Wenn Unternehmen wie Global Diligence darauf beharren, gegen die vom EuGH dargelegten Grundsätze des internationalen Rechts zu verstoßen, sollten sie damit beginnen, sich die Frage zu stellen, ob sie ähnliche Konsultationen mit russischen Siedler:innen in der Ukraine durchführen würden.

 

 

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